Erwin Iserloh, ‘Der thesenanschlag fand nicht statt…’

Uit Erwin Iserloh, Luther zwischen Reform und Reformation. Der Thesenanschlag fand nicht statt (Munster, 19682)

[Na alle gegevens te hebben verzameld en gewikt en gewogen komt Iserloh tot volgende chronologie voor de gebeurtenissen nu 500 jaar geleden. Voor u geknipt, uitgedund en geplakt van de pagina’s 75-80 van voornoemd boek]:

Die Ereignisse haben sich demnach etwa so abgespielt:

Luther hat den Bischöfen, u. a. dem Erzbischof von Mainz-Magdeburg am 31.10.1517, geschrieben und hat Antwort abgewartet. Als diese nicht eintraf, bzw. man ihn zu beschwichtigen suchte, ohne auf sein Reformanliegen ernsthaft einzugehen, hat er seine Ablaßthesen an Freunde und Gelehrte weitergegeben. Der erste Beleg dafür ist der Brief an Joh. Lang vom 11.11.1517. Vielen von denen, die sie in die Hand bekamen, wird es gegangen sein wie dem Franziskanerguardian Johannes Fleck, der nach Kennenlernen der Thesen gegenüber seinen Klosterbrüdern äußerte: “Er ist da, der es tun wird” ( WATr5, 177 Nr.5480), und Luther einen begeisterten Brief schrieb.

Viele Empfänger haben die Thesen unter der Hand weitergegeben . So erhielt der Nürnberger Stadtadvokat Christoph Scheurl sie von dem Wittenberger Kanoniker am Allerheiligenstift Ulrich von Dinstedt zugesandt. Er bestätigt den Empfang am 5.1.1518 : “Die Thesen Martins habe ich dankbaren Herzens empfangen; die Unsrigen haben sie übersetzt und schätzen sie”. Daß Scheurl die Thesen handgeschrieben erhalten hatte, bezeugt er indirekt selbst, wenn er in seinem 1528 verfaßten ,,Geschichtsbuch der Christenheit” schreibt: “Luther hat 95 Sätze vom Ablaß aufgestellt und den anderen Doctoren zugeschickt, gewißlich nicht in der Absicht, daß sie weiter verbreitet würden. Denn sie waren bloß geschrieben. Auch wollte er sie nicht alle defendieren, sondern allein in der Schule behandeln und der anderen Gutdünken darüber erfahren …  Welche Conclusion wurde, als in unseren Zeiten unerhört und ungewöhnlich, vielfältig abgeschrieben und im deutschen Land als neue Nachricht hin und hergeschickt” .

Wir dürfen annehmen, daß das von Ulrich von Dinstedt an Scheurl übersandte Exemplar zur Vorlage des uns erhaltenen Nürnberger Drucks gedient hat. Dieser versetzte Scheurl in die Lage, die Thesen an verschiedene gelehrte Freunde weiterzuschicken, so am 5.1.1518 an Konrad Peutinger, an Johannes Eck in Ingolstadt u. a. Am 8.1.1518 berichtet er dem Augustiner Caspar Güttel in Eisleben: “Allmählich versichere ich Dr. M. Luther der Freundschaft der Optimaten; seine Ablaßthesen bewundern und schätzen hoch Pirkheim er, A. Tucher und Wenzeslaus; C. Nuttel hat sie übersetzt; ich habe sie nach Augsburg und Ingolstadt geschickt

In diesen Tagen übersandte Scheurl auch an Luther einen Abdruck der Thesen in lateinischer und deutscher Sprache; er scheint dabei seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht zu haben, nicht von Luther selbst die Thesen erhalten zu haben. Im Brief vom 5.3.1518 verteidigt dieser sich: “Darauf, daß Du Dich wunderst, daß ich sie nicht zu Euch geschickt habe, antworte ich: Es war weder meine Absicht noch mein Wunsch, sie zu verbreiten, sondern mit Wenigen, die bei uns und um uns wohnen, zunächst über sie zu konferieren (“conferri” staat er, vaak vertaald met disputeren, zo Aland), damit sie so nach dem Urteil vieler entweder verworfen und abgetan oder gebilligt und herausgegeben würden. Aber jetzt werden sie weit über meine Erwartung so oft gedruckt und herumgebracht, daß mich dieses Erzeugnis reut. Nicht, daß ich nicht dafür wäre, daß die Wahrheit dem Volke bekannt werde – das wollte ich vielmehr einzig und allein -, sondern weil diese Weise [= Disputationsthesen] nicht geeignet ist, das Volk zu unterrichten. Denn es ist mir selbst etliches zweifelhaft und ich hätte manches weit anders und sicherer behauptet oder weggelassen, wenn ich das erwartet hätte. Doch erkenne ich zur Genüge aus dieser Verbreitung, was alle allenthalben vom Ablaß denken, freilich geheim, nämlich aus Furcht vor den Juden. So bin ich denn gezwungen, den Erweis für meine Thesen [= Resolutiones, die hij de bisschop van Brandenburg heeft voorgelegd, maar die ” ist sehr verhindert gewesen und hält mich so lange auf”, zelfde brief] vorzubereiten, den ich jedoch noch nicht habe veröffentlichen dürfen

Die Drucklegung Ende Dezember oder Anfang Januar erfolgte demnach ohne die Initiative, ja ohne den Willen Luthers. Er wurde durch seine Freunde sozusagen vor vollendete Tatsachen gestellt. Immerhin hat er den Dingen ihren Lauf gelassen. Er hat sich jedenfalls seit Frühjahr 1518, also nach Erscheinen der zahlreichen Thesendrucke berechtigt gesehen, davon zu sprechen, daß er öffentlich zu mündlicher oder schriftlicher wissenschaftlicher Auseinandersetzung eingeladen habe. Das ist nicht ganz korrekt, ja angesichts dessen, daß er sich vielfach peinlich berührt zeigt von der weiten Verbreitung der Thesen, sogar zwiespältig. Den äußerlichen Tatsachen nach dagegen stimmt es, weil in der Vorrede mit Luthers Worten zur Disputation bzw. zur schriftlichen Rückäußerung aufgefordert wird und die Öffentlichkeit annehmen durfte, daß Luther die Thesen hatte drucken lassen.

Luther behauptet jedenfalls seit Februar 1518, daß er öffentlich dazu eingeladen habe, in eine Auseinandersetzung über den Ablaß mit ihm einzutreten. So schreibt Luther in einem heute allgemein auf den 13.2.1518 datierten Brief an Bischof Hieronymus von Brandenburg, dem er damit seine ‚Resolutiones‘ zur Durchsicht zugesandt hat: “Um beiden Seiten d. h. im Streit um den Ablaß Genüge zu tun, schien es mir der beste Rat zu sein, beiden weder zuzustimmen noch ihnen zu widersprechen, sondern über eine so große Sache zu disputieren, bis die heilige Kirche festsetzte, was man meinen solle. Daher ließ ich eine Disputation ausgehen, indem ich einlud und bat öffentlich alle, privat jedoch, wen immer ich als sehr Gelehrten kannte, daß sie mir wenigstens brieflich ihre Meinung äußerten. Denn mir schien in diesen Dingen weder die Schrift wider mich zu stehen, noch die Lehrer der Kirche, noch das geistliche Recht selbst .. . Nach längeren Ausführungen über die Notwendigkeit, theologische Meinungen zu begründen und ungeklärte Fragen zur Diskussion zu stellen, fährt Luther fort: “Als ich daher alle in diese Arena rief, aber keiner kam und sodann sah, daß meine Disputationen weiter verbreitet wurden, als ich gewollt hatte, und weithin nicht als etwas, darüber zu disputieren sei , sondern als sicher angenommen wurden, sah ich mich gegen meine Erwartung und meinen Wunsch gezwungen, meine Unerfahrenheit und Unkenntnis unter die Leute zu bringen und die Erklärungen und Beweise der Disputationen öffentlich herauszugeben .”

Zum Schluß betont Luther, wegen der Kühnheit und Unwissenheit der Leute, die ihre Träume als Evangelium ausgäben, habe er sich gezwungen gesehen, seine Furcht zu überwinden und in die Disputation einzugreifen. Wenn deren [d. h. der Ablaßprediger, die mit Bullen und Drohungen aufwarten] Verwegenheit und Dummheit nicht so groß wäre, “dann hätte mich niemand außer mein Winkel kennengelernt”

Luther behauptet demnach, er habe eine Disputation ausgehen lassen und um, zum mindestens schriftliche, Meinungsäußerung gebeten. Diese Einladung sei auf doppeltem Wege erfolgt: öffentlich an Alle und privat (d.h. mündlich oder durch Handschreiben) an die ihm bekannten Gelehrten. Wenn man von der Diskussion um einen evtl. Thesenanschlag nichts wüßte, würde man annehmen, Luther habe die Thesen durch Buchdruck veröffentlicht und Exemplare davon privat an ihm bekannte Männer verschickt. Denn zu einem Anschlag der These n im Rahmen der Universität – die Türen der Schloßkirche waren u. a. deren “Schwarzes Brett” – will weder das publice omnes noch das privatim doctissimos, noch die Bitte um schriftliche Meinungsäußerung passen. Daß Luther eine größere Öffentlichkeit angesprochen haben will, als die der Universität es war, kommt darin zum Ausdruck, daß er sagt, nur das laute Auftreten der Ablaßprediger habe ihn dazu gebracht, seine Furcht zu überwinden und zu disputieren. Sonst wäre er außerhalb seines “Winkels” wohl nicht bekannt geworden. Im Brief an Joh. Lang vom 4. 9. 1517 war von der Wittenberger Universität als ” Winkel” die Rede. Luthers Thesenanschlag dort hätte bedeutet, in angulum susurrare (WABr 1, 103, 14 ).

Von öffentlicher Einladung zur Auseinandersetzung spricht Luther auch in einem Brief an Spalatin vom 15.2.1518, der also ungefähr gleichzeitig mit dem eben behandelten an Bischof Hieronymus ist. Er bedauert darin, daß der Kurfürst um seinetwillen ins Gerede gekommen sei und man behauptet habe, Friedrich d . W. habe ihn gegen seinen Rivalen Erzbischof Albrecht angestiftet. Freies Geleit vorausgesetzt, stellt sich Luther zu einer Disputation oder einer gerichtlichen Untersuchung zur Verfügung, wenn man nur den gänzlich unbeteiligten Fürsten nicht in die gegen ihn gerichtete Anklage auf Ketzerei verwickele. Er schließt mit einer allgemeinen Betrachtung über seine Situation : “Schau an die abscheuliche Art von Menschen und das Volk der Finsternis, das dem Lichte feind ist. Johann Reuchlin haben sie gegen seinen Willen durch drei Provinzen hindurch aufgespürt und vor die Gerichte geschleppt [Mainz, Speyer, Rom]. Mich, der ich ante fores [= in alle openbaarheid] einlud und aufforderte, verachten sie und beschwatzen in den Winkeln, was wissenschaftlich zu verteidigen sie sich außerstande sehen” ( WABr 1, 146, 89)

Luther gebraucht hier ante fores im Gegensatz zu in angulis wie im Brief an Job. Lang vom 4.9.1517 publice zu in angulum (WABr 1, 103, 10). So wäre mit Me ante fores invitantem et rogantem dasselbe gesagt wie mit dem invitans et rogans publice omnes im Brief an Bischof Hieronymus.

Da Luther das Gefühl hatte oder es wenigstens so erschien, daß er in Wittenberg im “Winkel” lebte, war mit einem Thesenanschlag innerhalb der “Winkeluniversität” Wittenberg dem publice oder ante fores nicht Genüge getan. Außerdem wäre es merkwürdig, wenn Luther, der eben noch sein Bedauern ausgesprochen hat, daß der Kurfürst in seine Sache hineingezogen wurde, hier mit dem Hinweis auf die öffentliche Einladung den Anschlag der Thesen an die Türe der Schloßkirche des Kurfürsten meinte. Überhaupt ist der Unterschied der Argumentation in diesem Brief an Spalatin zu der in dem Schreiben vom November 1517 nur verständlich, wenn inzwischen etwas geschehen ist, nämlich die Verbreitung der Thesen durch den Buchdruck.

Das invitans publice bzw. ante fores, das von den Verteidigern des Thesenanschlages als Hauptargument ins Feld geführt wird, ist also kein Beweis. Sicher nicht für einen Anschlag der Thesen am 31. 10. Oder 1. 11., dem so vieles im Wege steht. Wer nicht ohne einen solchen auskommen zu können meint, mag ihn Mitte November, etwa gleichzeitig mit der Übersendung der Thesen an Joh. Lang ansetzen.